Kolumne
Moment mal…
Das Leben läuft, tagtäglich, schnell und oft an uns vorbei. Wir sind mit vielen Dingen beschäftigt und beschäftigen uns mit vielen Dingen nicht. Vieles was wir tun ist für uns normal, doch normal ist vieles, was wir tun, längst nicht mehr. Wir ärgern uns über vieles, aber wirklich Ärgerliches lässt uns kalt, weil wir uns ohnmächtig dagegen fühlen oder weil wir glauben, nichts daran ändern zu können.
So war ich kürzlich Gast an einem Altersforum und wurde Zeuge eines Vortrages von Dr. Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. Ich muss zugeben, dass ich schon von ihm gehört und gelesen habe, aber wie oben beschrieben, mich nicht mit seinen Aussagen beschäftigt habe. Doch an diesem Tag habe ich genau hingehört und mich anschliessend mit seinen provokativen Aussagen beschäftigt. Mathias Binswanger hat ein Buch geschrieben, das den Titel trägt «Sinnlose Wettbewerbe – Warum wir immer mehr Unsinn produzieren».
Darin skizziert er auf erstaunlich präzise und zugleich äusserst nachdenkliche Art und Weise, wie unsinnig sich unsere Marktwirtschaft verhält und keiner etwas dagegen unternimmt. Er macht uns klar, dass wir in einer Welt leben, die von Wettbewerben und Reformen getrieben wird. «Je mehr Wettbewerb – umso besser: Schliesslich soll sich doch der, die oder das Beste durchsetzen. Also versucht man auch dort, wo es keinen Markt gibt, künstliche Wettbewerbe zu inszenieren, um die Wissenschaft, Bildung oder das Gesundheitswesen auf Effizienz zu trimmen», erläutert Binswanger.
Doch dies führe nicht zu mehr Qualität, sondern bloss dazu, dass viele Menschen freudlos und gestresst mit Akribie und Fleiss Dinge hervorbringen, die niemand brauche, erläutert der Autor, der davon spricht, dass dadurch Sinn durch Unsinn verdrängt werde, Qualität durch Quantität. Das mache sich vor allem im Gesundheitsbereich mit fatalen Folgen bemerkbar. Laut Binswanger leben wir nämlich heute in einem System, bei dem es sich mittlerweile lohnt, neue Krankheiten zu entdecken, um sich die Heilung derer abgelten zu lassen. So sei es heute das oberste Ziel eines Spitals, ein möglichst gutes, finanzielles Ergebnis zu erzielen. Damit dies erreicht werden könne, gehe es darum, die Patienten zu optimieren.
Ähnlich verhält es sich laut Binswanger mit Reformen, die im heutigen Wirtschaftsleben zum Tagegeschäft gehörten, laut dem Professor aber gar nicht nötig wären. «Heute muss man nicht mehr begründen, weshalb man eine Reform umsetzt, heute muss man sich rechtfertigen, wenn man keine Reform anpackt», sagt Mathias Binswanger. Alles werde permanent reformiert, man müsse heute bereits hartnäckig dafür kämpfen, dass etwas so bleiben darf, wie es ist. Innovation sei so ein Begriff, der in der heutigen Zeit sehr positiv besetzt sei. «Treibt man eine Innovation voran, muss man nicht einmal mehr begründe, weshalb man das tut», gibt er zu verstehen. Reformen sind nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern bereits selbst der Endzweck. Wozu sie schlussendlich dienen sollen, danach werde nicht mehr gefragt.
Die Ausführungen des Professors haben mir zu denken gegeben, weil sie essenzielle Grundwahrheiten enthalten. Sie haben bei mir aber auch die Frage aufgeworfen, weshalb wir das denn alles tun, warum wir uns so fehlleiten lassen? Die Antwort darauf kann ich Ihnen nicht geben, weil diese vermutlich zu komplex ist, aber ich kann zumindest mit einem Ratschlag dienen, denn ich halte es wie Mathias Binswanger: Man sollte dem Bewahren von gewissen Dingen wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Menschen wollen nicht ständig Veränderungen. Wer ein zufriedenes Leben führen will, wünscht, dass sich ab und zu etwas verändert – aber nicht pausenlos. Mit permanenten Reformen wird man nicht glücklicher. Das System, in dem wir leben, können wir alleine nicht verändern, aber wir können unsere Einstellung zu diesem System verändern, indem wir uns hin und wieder damit beschäftigen und uns bewusst werden, dass wir nicht jeden Unsinn mitmachen müssen und dafür an einigen Dingen festhalten dürfen, die sich durchaus bewährt haben und gut für uns waren, obwohl sie scheinbar schon längst reformbedürftig wären.
Walter Ryser
Redaktioneller Mitarbeiter