China – gefangen zwischen Fortschritt und Tradition

    von Eric G. Sarasin

    Die chinesische Führung kann nicht genug betonen, dass China ein Land in der Entwicklung ist. Dieses Mantra wiederholt sie ständig. In der Realität ist China jedoch ein Land, wo ein gigantisches Infrastruktur-Projekt das andere jagt und wo die Technologie sämtliche Bereiche im Nu erobert.

    Ein Beispiel dafür ist der von Huawei gebaute Campus in Shenzhen, einer Stadt mit 12.5 Millionen Einwohnern, der aus unterschiedlichen Architekturstilen, vom Versailles-Stil bis zum zaristischen Stil, erbaut worden ist und an einen europäischen Freizeitpark erinnert. Neben dem spektakulären Architekturstil ist das 5G-Laboratorium hochmodern und entspricht jeglichen Ansprüchen unserer Zeit. Die Huawei 5G-Technologie erobert momentan die halbe Welt, und in Grossbritannien hat sich die chinesische Technologie beim Ausbau ihres 5G-Netzes soeben durchgesetzt – trotz des Widerstands der USA.

    Auf der anderen Seite des Spektrums und inmitten des technologischen Fortschritts schauen wir auf die Coronaviren, die zurzeit die Welt in Atem halten. Die Behörden in China vermuten den Ursprung der Viren auf einem der sogenannten «Wet-Markets» in Wuhan, einer sechs Millionen Einwohner zählenden Stadt im Zentrum Chinas. Diese Märkte sind im Südosten Chinas sehr häufig anzutreffen. Dort werden geschlachtete oder in Käfigen eingesperrte lebende Tiere aller Art dargeboten, von Katzen, Hunden, Schlangen bis hin zu Fledermäusen. Man geht davon aus, dass Letztere der Ursprung des Virus sind, wobei das nur eine Hypothese ist. Die lebendigen Tiere werden oft direkt vor Ort geschlachtet und die Hygiene ist haarsträubend. Nebenan oder am gleichen Stand kann man dann auch Gemüse und Obst kaufen, aber es gibt keine eigentliche Trennung zwischen Fleischprodukten und anderen Nahrungsmitteln. Also können Viren mutieren und über andere Lebensmittel auch auf den Menschen übertragen werden. Offene Märkte wie sie es auch hierzulande gibt, sind durchaus attraktiv, weil die Produkte normalerweise sehr frisch sind und obendrein schön anzusehen sind.

    Auf Chinas Märkten gehören ganz selbstverständlich exotische Wildtiere zum Angebot. Diese Tradition stammt ursprünglich aus den diversen Kriegen und Hungersnöten, die China über Jahrhunderte erleiden musste. Aus dieser verzweifelten Lage heraus fingen die Chinesen an, alles Fleisch zu essen, was verfügbar war. Dabei haben gewisse Gerichte durchaus kulturellen Charakter, was viele im Westen nicht verstehen können. Auch glauben die Chinesen daran, dass gewisse Tiere einen medizinischen Nutzen für den Menschen haben, was aber wissenschaftlich nicht nachgewiesen ist.

    Der Sars-Virus im Jahr 2002 hat denselben Ursprung wie der Coronavirus und wurde ebenfalls über Tiere auf den Menschen übertragen. Der Coronavirus ist jedoch noch um einiges schlimmer, hat er doch schon jetzt mehr Todesopfer gefordert, als der Sars-Virus seinerzeit. Die Eindämmungspolitik, zum Beispiel der USA, ist sicher der richtige Weg, um die Verbreitung des Virus zu kontrollieren und zu verhindern. Der Wuhan-Markt wurde an Neujahr geschlossen. Einige Händler verlangen jetzt vom Staat eine Kompensation für ihre finanziellen Einbussen. Die Chinesen versuchen alles Mögliche, damit der Virus nicht auf die grossen Metropolen Peking und Shanghai übergreift und es zu einer landesweiten Epidemie kommt. Dabei ist das Gesundheitssystem in China stark unter Druck, weil es Kapazitätsengpässe bei Ärzten gibt und das Vertrauen in diese zudem nicht sehr gross ist. Das Misstrauen in der Bevölkerung, das den Ärzten entgegenschlägt, besteht auch gegenüber der kommunistischen Führung des Landes sowie innerhalb der Bevölkerung. So schotten sich gewissen Gemein-den gegen Besucher und nicht einheimische Personen ab, zum Teil mit Backsteinmauern und grossen Schildern, auf denen steht: «outsiders not welcome».

    China hat in den letzten zehn Jahren 700 Millionen Menschen aus der Armut in die Mittelklasse geführt. Das ist ein grosser Verdienst der Regierung in Peking, und man sieht den Fortschritt vor allem in den grossen Metropolen. China hat über 80 Städte mit mehr als einer Million Einwohner und ist das bevölkerungsreichste Land der Erde über-haupt. Durch dieses enorm schnelle Wachstum – denn China will die grösste und stärkste Wirtschaftsmacht der Welt werden (notabene unter kommunistischer Führung) – ergeben sich grosse Unterschiede, wie wir jetzt wieder sehen: Auf der einen Seite das hoch technologisierte China und auf der anderen Seite die primitiven, unhygienischen offenen Märkte. Falls diese Unterschiede nicht behoben werden können, wird der Coronavirus nicht der letzte Virus sein, der in China seinen Ursprung haben wird. Hoffen wir alle, dass die Führung in Peking diese Baustelle schnell in Angriff nehmen wird. Schliesslich ist die Verantwortung gegenüber den Einwohnerinnen und Einwohnern dieses Landes, aber auch gegenüber der Weltgemeinschaft enorm!

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